Lot: 142

98. Auktion

Anthropomorphe Skulptur "tino aitu"

Mikronesien - Karolinen, Nukuoro Atoll

Provenance Size Starting price / estimated price
American Private Collection H: 43,5 cm 10000 EUR
plus 27 % commission, VAT, transport and insurance

Holz, Spuren von Farbe und Beopferung, etliche alte Spannungsrisse

Geschnitzte Holzfiguren von Nukuoro werden im Jahre 1874 von dem Missionar Edward T. Doane erstmals erwähnt. Johann Stanislaus Kubary, der die Insel 1873 und 1877 besuchte, während er für die Handelsgesellschaft Godeffroy und deren Museum arbeitete und Carl Jeschke, einem Schiffskapitän, der das Atoll erstmals 1904 und dann regelmäßig zwischen 1910 und 1913 besuchte, geben die detailliertesten Informationen über Nukuoro-Figuren.

Die ersten Europäer, die Nukuoro-Skulpturen sammelten, empfanden sie als grob und unbeholfen. Es ist nicht bekannt, ob die Figuren aus dem Holz des Brotfruchtbaums (Artocarpus altilis) mit einheimischen Tridacna-Muschelklingen oder mit westlichen Metallklingenwerkzeugen geschnitzt wurden. Die Oberflächen wurden mit Bimsstein geglättet, der am Strand im Überfluss vorhanden war. Alle Skulpturen, die zwischen 30 cm und 217 cm groß sind, haben ähnliche Proportionen und Formen. Sie zeigen einen ovalen Kopf, der sich am Kinn leicht verjüngt und einen säulenförmigen Hals. Augen und Nase sind entweder diskret als Schlitze oder gar nicht dargestellt. Die Schultern sind schräg nach unten geneigt, und die Brust durch eine einfache Linie angedeutet. Einige weibliche Figuren haben rudimentäre Brüste. Einige der Skulpturen zeigen skizzenhafte Andeutungen von Händen und Füßen. Die Figuren stehen auf gebeugten Beinen, das Gesäß ist abgeflacht.

Die lokalen Gottheiten von Nukuoro "wohnten" in Tieren oder wurden von Steinen, Holzstücken oder Holzfiguren "tino aitu" verkörpert. Jede dieser Figuren trug den Namen einer bestimmten männlichen oder weiblichen Gottheit, die mit einem bestimmten Familienverband, einem Priester und einem bestimmten Tempel in Verbindung stand. Sie wurden in Tempeln aufgestellt und mit gewebten Bändern, feinen Matten, Federn, Farbe oder Kopfschmuck verziert.

Die "tino aitu" nahmen einen zentralen Platz in einer wichtigen religiösen Zeremonie ein, die gegen Ende des Monats Mataariki stattfand, wenn die Plejaden in der Abenddämmerung im Westen zu sehen sind. Die Rituale markierten den Beginn der Ernte von Brotfrüchten, Taro, Pfeilwurz, Bananen, Zuckerrohr und Kokosnüssen. Während der Feierlichkeiten, die mehrere Wochen dauern konnten, wurden den Holzskulpturen Speiseopfer dargebracht, begleitet von Tänzaufführungen der Männer und Frauen. Verwitterte und verrottete Statuen wurden während der Zeremonie ausgetauscht. Für die Dauer dieser Rituale galten die Skulpturen als Wohnstatt einer Gottheit oder des Geistes eines vergöttlichten Vorfahren.

Ikonographische Ähnlichkeiten finden wir bei zwei weiteren Beispielen: eine Figur im British Museum in London [Nr. OC1944, 02.946] und ein Exemplar aus dem Rautenstrauch-Joest-Museum in Köln [Nr. 34028], beide haben ikonografische Details mit unserem Beispiel gemeinsam.

Obwohl es sich um eine Schnitzerei aus dem späten 19. / frühen 20. Jahrhundert handelt, zeigt das vorliegende Werk die klassische minimalistische Tradition dieser polynesischen Exklave und ist Beleg dafür, dass die Schnitztradition zu dieser Zeit noch existent war.


Kaeppler, Adrienne L., The Pacific Arts of Polynesia & Micronesia, Oxford: Oxford University Press, 2008; Kaufmann, Christian, Wick, Oliver (eds), Nukuoro. Sculptures from Micronesia, Basel: Fondation Beyeler, Hirmer, 2013; https://www.khanacademy.org/hu